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Familie Nordenberg, Plonsk, ca. 1929. Zwei Mädchen durften auswandern und haben überlebt. |
Meine
Schwiegereltern wanderten 1935 als ganz junge Menschen von Polen nach Palästina
aus. Die Britische Mandatsverwaltung in Palästina stellte ihnen ein
“Zertifikat” aus, eine Einwanderungsbewilligung. Ihre Eltern und Geschwister
haben sie nie wieder gesehen; kein einziger von ihnen hat die Verfolgung und
die industrielle Vernichtung der Nazis überlebt. Überlebt haben lediglich einige
entfernte Verwandte, die sich nach und nach mühselig wieder ein normales Leben
aufbauten. Dies ist der familiäre Hintergrund meines Lebenspartners, der wenige
Jahre nach Kriegsende geboren wurde.
Ich dagegen bin
in der Schweiz geboren und aufgewachsen, meine Familienwurzeln im Kanton Bern reichen
jahrhundertelang zurück.
Kennengelernt
haben wir uns 1978, und seither lebe ich in Israel. Aus verschiedenen Gründen bin
ich zum Judentum konvertiert, damit sind unsere drei Kinder nach Gesetz und Brauch
ebenfalls Juden.
Viele unserer
gleichaltrigen Freunde sind Kinder von KZ-Überlebenden oder rechtzeitig
Ausgewanderten, und in den letzten 35 Jahren konnte ich die vielschichtigen
Aspekte der Verfolgung auch in der Nachkriegsgeneration aus nächster Nähe beobachten.
Auch nach 70 Jahren kann das Grauenhafte nicht einfach unter den Teppich
gekehrt werden; es lebt nicht nur in der direkt betroffenen Generation weiter,
sondern auch in der Folgegeneration, die heute 50, 60 oder 65 Jahre alt ist –
in vermindertem Maße zwar, doch allgegenwärtig und deutlich spürbar. Auch die
israelische Politik unter Ministerpräsident Nethanyahu ist stark davon geprägt. Die Schatten von 6 Millionen Toten sind sehr
lang. Anders ist das jedoch bei der nächsten Generation, unseren Kindern.
Viele israelische
Gymnasiasten, besonders diejenigen mit europäischen Wurzeln, nehmen an einer
Reise nach Polen teil, die die Schüler auf die Spuren ihrer Vergangenheit zu
den Ghettos, den Vernichtungslagern und den Friedhöfen führt. Auch unsere drei Kindern haben an einer solchen Reise teilgenommen. Sie
wurden in vielstündigen Arbeitsseminaren darauf vorbereitet und mussten sich
mit unterschiedlichsten Aspekten von Verfolgung und Humanität, Krieg und
Frieden auseinander setzen. Bei jedem von den Dreien hatte ich nach der Reise
den Eindruck, die Generation unserer Kinder hat eine größere emotionale Distanz zum Holocaust – eine Distanz, die die erste Nachkriegsgeneration
nicht haben konnte, weil sie allzu direkt betroffen war. Insgesamt werte ich
das als positives Zeichen. Die Zeit heilt bekanntlich Wunden, damit werden auch
die Schatten des Holocaust langsam kürzer. So wird die israelische Politik vielleicht in absehbarer Zukunft,
wenn diese nächste Generation das Schicksal des Staates lenken wird, weniger
traumatisiert und pragmatischer geprägt sein.
Vor der
Polenreise wurden wir Eltern gebeten, unseren Kindern einen Brief zu schreiben,
der ihnen während der Reise ausgehändigt werden sollte. Untenstehend ist ein
leicht gekürzter Brief,
den ich meinen Kindern jeweils mitgegeben habe (2004, 2006, 2010).
Lieber J., liebe A., liebe T.,
Diesen Brief wirst Du in Polen lesen, auf einer Reise,
die vielleicht die schwierigste Deines Lebens sein wird. Du wirst von einem
Friedhof zum anderen fahren, von den Überresten der jüdischen Ghettos zu den
Vernichtungslagern, Orte, an denen eines der schrecklichsten Verbrechen an
Menschen begangen wurden, nur weil sie einer gewissen Gruppe Menschen
angehörte, DEINEM Volk. Ich sage hier “Deinem Volk”, weil ich als Christin
aufgewachsen bin, und vom Trauma der Familie Deines Vaters, Deiner Grosseltern,
Deines Onkels und aller anderen aus Europa stammenden Juden nicht betroffen
war. Sosehr ich mich heute mit Israel identifiziere, und mich als zugehörig
ansehe, in diesem Falle bin ich ein Aussenseiter, weil meine Familie nicht von
den Nazis verfolgt wurde. Mein Volk hat im Gegenteil sogar herzlich wenig dazu beigetragen, den Verfolgten zu
helfen; das ist die traurige, aber aufrichtige Wahrheit, die zu schreiben mir nicht
leicht fällt. Ich werde nie verstehen können, was es bedeutet, mit dem Trauma
von Pogromen, Verfolgung und gezielter Vernichtung zu leben. Wenn Dein Vater
darüber nachdenkt, ob es “sicher” ist, nach Südfrankreich zu fahren, weil es dort
viele Araber und Antisemitismus gibt, kann ich diese Bedenken emotional nicht
nachvollziehen, glaube jedoch, die Wurzeln dieser Ängste zu
erkennen – eben gerade in dieser zwar nicht direkt, aber doch indirekt erlebten
Verfolgung. So tief sitzt die Angst vor Verfolgung, auch in der ersten in
Israel geborenen Generation.
Du
unternimmst eine Reise, zu der ich nie den Mut hatte. Du
besuchst das Land deiner Vorväter, wo sie während Generationen gelebt haben und
eine reiche und ganz besondere Kultur errichtet haben, die von den Nazis und
ihren Handlangern vollständig vernichtet wurde. Die Überreste davon werden von
uns modernen, freiheitlichen und säkularen Israelis vielfach belächelt, es ist
in einem modernen demokratischen Staat nicht “in”, orthodoxer Jude zu sein, das
hat keinen Platz in unserer modernen Gesellschaft.
Ich möchte, dass Du von dieser Reise Folgendes lernst
- Ehre die Kultur Deiner polnischen Vorväter. Du stammst von zwei verschiedenen Völkern ab, und es ist wichtig, dass du beide ehrst. Oft scheint es einfacher, Deine Schweizer Kultur zu ehren, sie ist weit weg, sie bedeutet Sommerferien oder Skifahren, sie bringt keine traumatischen Erfahrungen mit sich wie diejenigen der europäischen Juden, und deshalb erscheint sie oft verständlicher. Ich hoffe, dass Dir die Teilnahme an dieser Reise die Augen öffnen wird für eine untergegangene, aber reiche und interessante Kultur und auch für das Leid, das dieser Teil Deiner Familie durchleben musste und muss. Diese Reise soll Dich lehren, die Toten zu ehren, noch mehr jedoch, die Überlebenden zu respektieren, diejenigen, die Schreckliches erlebt haben und sich trotz allem entschlossen haben, einen Neuanfang zu machen, die geheiratet und Familien gegründet, eine neue Sprache erlernt und ein neues Land aufgebaut haben, allen Unannehmlichkeiten im Nahen Osten zum Trotz.
- Hasse einen Menschen niemals, weil er einer gewissen Gruppe angehört. Der Holocaust und andere rassistische Verfolgungen konnten und können nur durchgeführt werden, weil Menschen ihre Mitmenschen als “einer anderen Gruppe zugehörig“ angesehen haben und ansehen. Ich möchte nicht, dass Du von dieser Reise zurückkommst und diejenigen hasst, die die schrecklichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit durchgeführt haben. Auch dieser Hass wäre nämlich eine Art Rassismus. Du bist eine Generation weiter von diesen unerträglichen Greueln entfernt, und deswegen ist es für Dich schon einfacher. Vielleicht reichen die langen Schatten der Toten und Überlebenden inzwischen nicht mehr ganz so weit. Dein Vater und ich haben versucht, Dir humanitäre Werte, Verständnis und Toleranz für andere Kulturen mitzugeben – Werte, die das Fundament unseres gemeinsamen Lebens bilden, Werte, ohne die unsere Ehe keinen Bestand hätte. Unsere Welten sind zu verschieden, und es waren viel Toleranz und gegenseitige Akzeptanz nötig, um die Verschiedenheiten zu überbrücken.
- Öffne Deine Augen für das Leid der Anderen. Dies ist ein Wunsch, den ich Dir auf diese Reise mitgebe. Im Vorbereitungsseminar haben Du und Deine Mitschüler bereits bewiesen, dass Ihr die Welt mit offenen Augen seht. Den Brief, den Ihr Ministerpräsident Ariel Sharon geschrieben habt*, hat mich beeindruckt, da er zeigt, dass Ihr Eure Augen nicht einfach vor dem Leid Anderer verschließt. Wir können nicht alles ändern, aber wir können vieles in unserem kleinen Wirkungskreis ändern – und manchmal auch im größeren Rahmen.
Ich liebe und umarme Dich,
Ima (das hebräische Wort
für Mami)
* Im Frühling Jahre 2004, im Rahmen des Vorbereitungsseminars, haben die Schüler des Gymnasiums, als die Vergasung politischer Häftlinge in Nordkorea publik wurde, einen Brief an den israelischen Ministerpräsident mit der Aufforderung, bei der nordkoreanischen Regierung Protest gegen dieses Vorgehen einzulegen.