Monday, January 27, 2014

68 Jahre danach - die langen Schatten des Holocaust

Familie Nordenberg, Plonsk, ca. 1929. Zwei Mädchen
durften auswandern und haben überlebt.
Meine Schwiegereltern wanderten 1935 als ganz junge Menschen von Polen nach Palästina aus. Die Britische Mandatsverwaltung in Palästina stellte ihnen ein “Zertifikat” aus, eine Einwanderungsbewilligung. Ihre Eltern und Geschwister haben sie nie wieder gesehen; kein einziger von ihnen hat die Verfolgung und die industrielle Vernichtung der Nazis überlebt. Überlebt haben lediglich einige entfernte Verwandte, die sich nach und nach mühselig wieder ein normales Leben aufbauten. Dies ist der familiäre Hintergrund meines Lebenspartners, der wenige Jahre nach Kriegsende geboren wurde.

Ich dagegen bin in der Schweiz geboren und aufgewachsen, meine Familienwurzeln im Kanton Bern reichen jahrhundertelang zurück.

Kennengelernt haben wir uns 1978, und seither lebe ich in Israel. Aus verschiedenen Gründen bin ich zum Judentum konvertiert, damit sind unsere drei Kinder nach Gesetz und Brauch ebenfalls Juden.

Viele unserer gleichaltrigen Freunde sind Kinder von KZ-Überlebenden oder rechtzeitig Ausgewanderten, und in den letzten 35 Jahren konnte ich die vielschichtigen Aspekte der Verfolgung auch in der Nachkriegsgeneration aus nächster Nähe beobachten. Auch nach 70 Jahren kann das Grauenhafte nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden; es lebt nicht nur in der direkt betroffenen Generation weiter, sondern auch in der Folgegeneration, die heute 50, 60 oder 65 Jahre alt ist – in vermindertem Maße zwar, doch allgegenwärtig und deutlich spürbar. Auch die israelische Politik unter Ministerpräsident Nethanyahu ist stark davon geprägt. Die Schatten von 6 Millionen Toten sind sehr lang. Anders ist das jedoch bei der nächsten Generation, unseren Kindern.

Viele israelische Gymnasiasten, besonders diejenigen mit europäischen Wurzeln, nehmen an einer Reise nach Polen teil, die die Schüler auf die Spuren ihrer Vergangenheit zu den Ghettos, den Vernichtungslagern und den Friedhöfen führt. Auch unsere drei Kindern haben an einer solchen Reise teilgenommen. Sie wurden in vielstündigen Arbeitsseminaren darauf vorbereitet und mussten sich mit unterschiedlichsten Aspekten von Verfolgung und Humanität, Krieg und Frieden auseinander setzen. Bei jedem von den Dreien hatte ich nach der Reise den Eindruck, die Generation unserer Kinder hat eine größere emotionale Distanz zum Holocaust – eine Distanz, die die erste Nachkriegsgeneration nicht haben konnte, weil sie allzu direkt betroffen war. Insgesamt werte ich das als positives Zeichen. Die Zeit heilt bekanntlich Wunden, damit werden auch die Schatten des Holocaust langsam kürzer. So wird die israelische Politik vielleicht in absehbarer Zukunft, wenn diese nächste Generation das Schicksal des Staates lenken wird, weniger traumatisiert und pragmatischer geprägt sein.

Vor der Polenreise wurden wir Eltern gebeten, unseren Kindern einen Brief zu schreiben, der ihnen während der Reise ausgehändigt werden sollte. Untenstehend ist ein leicht gekürzter Brief, den ich meinen Kindern jeweils mitgegeben habe (2004, 2006, 2010).

Lieber J., liebe A., liebe T.,
Diesen Brief wirst Du in Polen lesen, auf einer Reise, die vielleicht die schwierigste Deines Lebens sein wird. Du wirst von einem Friedhof zum anderen fahren, von den Überresten der jüdischen Ghettos zu den Vernichtungslagern, Orte, an denen eines der schrecklichsten Verbrechen an Menschen begangen wurden, nur weil sie einer gewissen Gruppe Menschen angehörte, DEINEM Volk. Ich sage hier “Deinem Volk”, weil ich als Christin aufgewachsen bin, und vom Trauma der Familie Deines Vaters, Deiner Grosseltern, Deines Onkels und aller anderen aus Europa stammenden Juden nicht betroffen war. Sosehr ich mich heute mit Israel identifiziere, und mich als zugehörig ansehe, in diesem Falle bin ich ein Aussenseiter, weil meine Familie nicht von den Nazis verfolgt wurde. Mein Volk hat im Gegenteil sogar herzlich wenig dazu beigetragen, den Verfolgten zu helfen; das ist die traurige, aber aufrichtige Wahrheit, die zu schreiben mir nicht leicht fällt. Ich werde nie verstehen können, was es bedeutet, mit dem Trauma von Pogromen, Verfolgung und gezielter Vernichtung zu leben. Wenn Dein Vater darüber nachdenkt, ob es “sicher” ist, nach Südfrankreich zu fahren, weil es dort viele Araber und Antisemitismus gibt, kann ich diese Bedenken emotional nicht nachvollziehen, glaube jedoch, die Wurzeln dieser Ängste zu erkennen – eben gerade in dieser zwar nicht direkt, aber doch indirekt erlebten Verfolgung. So tief sitzt die Angst vor Verfolgung, auch in der ersten in Israel geborenen Generation.
 
Suchanzeige für Esther Nordenberg,
ausgestellt von der überlebenden
Familie in Israel
Du unternimmst eine Reise, zu der ich nie den Mut hatte. Du besuchst das Land deiner Vorväter, wo sie während Generationen gelebt haben und eine reiche und ganz besondere Kultur errichtet haben, die von den Nazis und ihren Handlangern vollständig vernichtet wurde. Die Überreste davon werden von uns modernen, freiheitlichen und säkularen Israelis vielfach belächelt, es ist in einem modernen demokratischen Staat nicht “in”, orthodoxer Jude zu sein, das hat keinen Platz in unserer modernen Gesellschaft.

Ich möchte, dass Du von dieser Reise Folgendes lernst
  • Ehre die Kultur Deiner polnischen Vorväter. Du stammst von zwei verschiedenen Völkern ab, und es ist wichtig, dass du beide ehrst. Oft scheint es einfacher, Deine Schweizer Kultur zu ehren, sie ist weit weg, sie bedeutet Sommerferien oder Skifahren, sie bringt keine traumatischen Erfahrungen mit sich wie diejenigen der europäischen Juden, und deshalb erscheint sie oft verständlicher. Ich hoffe, dass Dir die Teilnahme an dieser Reise die Augen öffnen wird für eine untergegangene, aber reiche und interessante Kultur und auch für das Leid, das dieser Teil Deiner Familie durchleben musste und muss. Diese Reise soll Dich lehren, die Toten zu ehren, noch mehr jedoch, die Überlebenden zu respektieren, diejenigen, die Schreckliches erlebt haben und sich trotz allem entschlossen haben, einen Neuanfang zu machen, die geheiratet und Familien gegründet, eine neue Sprache erlernt und ein neues Land aufgebaut haben, allen Unannehmlichkeiten im Nahen Osten zum Trotz.
  • Hasse einen Menschen niemals, weil er einer gewissen Gruppe angehört. Der Holocaust und andere rassistische Verfolgungen konnten und können nur durchgeführt werden, weil Menschen ihre Mitmenschen als “einer anderen Gruppe zugehörig“ angesehen haben und ansehen. Ich möchte nicht, dass Du von dieser Reise zurückkommst und diejenigen hasst, die die schrecklichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit durchgeführt haben. Auch dieser Hass wäre nämlich eine Art Rassismus. Du bist eine Generation weiter von diesen unerträglichen Greueln entfernt, und deswegen ist es für Dich schon einfacher. Vielleicht reichen die langen Schatten der Toten und Überlebenden inzwischen nicht mehr ganz so weit. Dein Vater und ich haben versucht, Dir humanitäre Werte, Verständnis und Toleranz für andere Kulturen mitzugeben – Werte, die das Fundament unseres gemeinsamen Lebens bilden, Werte, ohne die unsere Ehe keinen Bestand hätte. Unsere Welten sind zu verschieden, und es waren viel Toleranz und gegenseitige Akzeptanz nötig, um die Verschiedenheiten zu überbrücken.
  • Öffne Deine Augen für das Leid der Anderen. Dies ist ein Wunsch, den ich Dir auf diese Reise mitgebe. Im Vorbereitungsseminar haben Du und Deine Mitschüler bereits bewiesen, dass Ihr die Welt mit offenen Augen seht. Den Brief, den Ihr Ministerpräsident Ariel Sharon geschrieben habt*, hat mich beeindruckt, da er zeigt, dass Ihr Eure Augen nicht einfach vor dem Leid Anderer verschließt. Wir können nicht alles ändern, aber wir können vieles in unserem kleinen Wirkungskreis ändern – und manchmal auch im größeren Rahmen.


Ich liebe und umarme Dich,
Ima (das hebräische Wort für Mami)


* Im Fr
ühling Jahre 2004, im Rahmen des Vorbereitungsseminars, haben die Schüler des Gymnasiums, als die Vergasung politischer Häftlinge in Nordkorea publik wurde, einen Brief an den israelischen Ministerpräsident mit der Aufforderung, bei der nordkoreanischen Regierung Protest gegen dieses Vorgehen einzulegen.