Sunday, February 16, 2014

5 Bemerkungen zur Situation

Im hebräischen Sprachgebrauch wird das Wort "Matzav" häufig gebraucht. Matzav heisst soviel wie "Situation" und beschreibt oft recht unangenehme Vorfälle, und deren gibt es viele, von wirtschaftlichen Schwierigkeiten über Korruption bis zu bewaffneten Zwischenfällen. In der Tageszeitung Ha‘aretz gibt es eine Kolumne mit dem obigen Titel.

Hier 5 Bemerkungen zum Matzav, zur Situation:

1. Vor nicht langer Zeit ist der ehemalige Ministerpräsident Ariel Sharon nach 8 Jahren komatöser Krankenhauspflege, nach mehreren Operationen und vielfältigen medizinischen Untersuchungen gestorben. Finanziert hat das Ganze der Staat, mit unseren Steuergeldern. Krankenhausaufenthalte sind nie angenehm, schon gar nicht in Israel, wo die Krankenhäuser sicher nicht an mitteleuropäische Standards heranreichen. Die medizinische Betreuung ist gut, aber wehe, man möchte einen Arzt sprechen. Die rennen alle von der Notaufnahme zur Abteilung und von dort zu einer Operation, keiner ist ansprechbar. Und wie steht es mit der Pflege? Auch hier wird gespart – für nichtmedizinische Pflege sind die Verwandten zuständig. Da fehlt das Geld, und es ist selbstverständlich, dass die Bürger einspringen.
Dazu eine OECD Statistik: Anzahl KrankenpflegerInnen pro 1000 Einwohner: Deutschland 11.4, Schweiz 16.6, Israel 4.8.

2. In israelischen Schulen werden bis zu 40 (!), ja, richtig gelesen: 40 Schüler in einer Klasse unterrichtet. Man spricht von Computern, modernen Unterrichtsmethoden, aber was ist mit kleineren Klassen? Davon habe ich noch nie gehört. Da fehlt das Geld. Und auch hier ist es selbstverständlich, dass die Eltern die Zusatzausbildung für ihre Kinder selbst finanzieren, weil man in den grossen Klassen nicht viel lernen kann.

3. Der öffentliche Verkehr wird vielerorts subventioniert. Zum neuen Jahr wurden die Tarife des öffentlichen Verkehrs erhöht, soll heißen: Der Staat zahlt weniger, die Bürger mehr. Seit neuestem kostet nun eine Stadtfahrt NIS 6.90, umgerechnet Fr. 1.60. Eigentlich billig, oder nicht? Aber: Wer in Israel fährt Bus? Alte Menschen, Schüler oder Niedriglohnempfänger. Der Mindeststundenlohn in Israel beträgt 23 NIS, damit kostet eine Busfahrt 30% des Mindeststundenlohns. In der Schweiz zahlt man üblicherweise ca. 15% des Mindeststundenlohns für eine Stadtfahrt. Auch hier fehlt es an Geld.
Nördlich von Jerusalem - Stadtbild mit Mauer

4. Im Dezember 2013 habe ich an einer Exkursion der NGO Ir Amim im Norden Jerusalems teilgenommen. Ir Amim setzt sich für ein "gerechtes und stabiles Jerusalem mit einer gemeinsam ausgehandelten politischen Zukunft" ein. Wir haben die verschiedenen jüdischen Stadtviertel und Siedlungen, die palästinensischen Stadtviertel und Flüchtlingslager, die Mauern, die Zäune und die dazugehörigen Umgehungsstraßen, diese ganze verschandelte Landschaft von verschiedenen Aussichtspunkten aus betrachtet und die dazugehörigen Karten studiert. Man muss es schon gesehen haben, um es überhaupt zu glauben, aber sicher ist nur eines: Es werden Unmengen von Geld verschleudert, vorgeblich, um die Stadt Jerusalem zu vereinigen... De facto jedoch wird die Stadt gerade in kleinste Einheiten zerstückelt.

5. Vor kurzem lernte ich den Verwalter eines Gemeindekulturzentrums von Jerusalem kennen. Er ist Israeli und Jude, arbeitet aber im arabischen Teil von Ostjerusalem – in Stadtvierteln, die zum Stadtgebiet von Jerusalem gehören, aber außerhalb der Mauer liegen, also vom Stadtzentrum abgeschnitten sind. Er leistet dort eine Menge, damit junge Palästinenser Fußball spielen oder Frauen sich im Kulturzentrum treffen können. Als ich wieder zu Hause war, habe ich mir seine Visitenkarte noch einmal genauer angesehen. Eine grafisch ansprechend gestaltete Karte mit dem Marketing-Slogan: "inside the city, outside the fence". Ein guter Spruch, ja sogar sehr clever (und ich verstehe einiges davon, schließlich habe ich 20 Jahre in der Unternehmenskommunikation gearbeitet). Irgendjemand hat auch das finanziert, weil es wichtig ist, dass die Jerusalemer Mauer richtig vermarktet wird.


Was tun wir, um die Situation zu ändern? So wenig, wie die meisten anderen Bürger auch. Man redet viel und tut herzlich wenig. In diesem Zusammenhang denke ich auch an ein Gespräch, das ich vor wenigen Wochen mit einer Schweizer Freundin, die ebenfalls seit vielen Jahren in Israel lebt, führte. Sie hat 4 militärpflichtige Söhne. Wir sprachen über die "bewusste Verdrängung" der Situation, die vielen Ungerechtigkeiten, die falsch gesetzten Prioritäten, die Dummheit der Politiker, die immer neuen Spitzfindigkeiten der Gesetzgebung. Einerseits gehen wir mit offenen Augen und ganz bewusst durch die Welt, andererseits ist diese Realität häufig so schmerzhaft, dass wir sie verdrängen. Und wenn 4 Söhne Militärpflicht leisten, ist das mit Sicherheit ein guter Grund, um die Situation zu verdrängen.