Thursday, June 5, 2014

Syrien im Blickfeld

Wir verbringen ein verlängertes Wochenende in Madj AlSchams, dem grössten der vier Drusendörfer auf den von Israel 1982 annektierten Golanhöhen. Wunderbar ist die geografische Lages des Dorfes zu Füssen des Hermongebirges. Wir haben uns bei einer Drusenfamilie eingemietet, geniessen die Aussicht auf die Berge und das breite Tal unterhalb des Dorfes, das von Apfel- und Kirschenplanatagen bewachsen ist. Eben fängt die Kirschenernte an, also eine geschäftige Zeit. Hoch oben über dem Dorf jedoch herrscht Ruhe, nur das Dauersummen des Verkehrs ist zu hören, und sporadische Gewehrsalven von der "anderen Seite". Der elektronische Zaun entlang der Waffenstillstandsslinie verläuft gleich hinter dem Dorf. Dann gibt es wenige Kilometer Niemandsland, und dann kommt Syrien.

Madj AlSchams hat mehr als 10,000 Einwohner und bildet das drusische Zentrum in den Golanhöhen; es ist eher eine Kleinstadt mit vielen Kleidergeschäften, Banken, Kranken- und Zahnarztkliniken, 2 Hotels und einer schönen Anzahl Restaurants. Wir schlendern durch das Dorf und kommen in den Genuss einer weiteren Fazette dieser  multikulturellen Region im östlichen Mittelmeerraum. Auf einem Verkehrskreisel des Dorfes findet, 4 Tage vor den Präsidentschaftswahlen in Syrien, eine fröhliche Wahlkampagnie für den amtierenden Präsidenten von Syrien, Baschar Assad statt, den Mann, der für die bisher 160,000 Toten des Bürgerkrieges und für die Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge in Syrien verantwortlich ist. Fahrzeuge mit syrischen Flaggen und lauter Musik fahren durchs Dorf, auf der Verkehrsinsel mit Statue werden Fahnen geschwenkt, es wird ein Kreis gebildet und zur Musik getanzt. Es herrscht eine durchaus entspannte und fröhliche Stimmung, wie bei einem Volksfest. Trotzdem wage ich es nicht zu fotografieren.
Heimlich fotografiert - ein parkierendes
 Fahrzeug in Madj AlShams

Wir führen ein langes Gespräch mit einem jungen Dorfbewohner. Ein Teil seiner Familie lebt in Syrien, in einem Dorf in der Nähe von Daara, im Süden Syriens. "Es geht ihnen gut", sagt er am Anfang. Aber dann kommen weitere Details hinzu: "Sie haben viele Flüchtlinge aufgenommen. Die Strassen sind zerstört und die Versorgung ist nicht immer gewährleistet..... aber die Regierung hilft, wo sie kann." Und auch: "Alle Zeitungen lügen, Assad liebt sein Volk."

Die Drusen sind eine ethnisch-religiöse Minderheit, gebildet im 11. Jahrhundert, und seither vor allem vom Islam, von dem sie sich abgesondert haben, verfolgt. Überlebt  haben sie, weil sie an schwer zugänglichen Orten leben, und weil sie sich immer mit der jeweiligen Regierung gutstellen. Die 5-6 Millionen Drusen verteilen sich über Syrien, Libanon, die Türkei, Israel und Jordanien. In Israel leisten die drusischen Männer obligatorischen Militärdienst. Hier in den annektierten Golanhöhen, wo in der Vergangenheit ab und zu geheime Verhandlungen zwischen Israel und Syrien stattfanden, ist Loyalität eine schwierige Sache. Loyalität dem Staat Israel gegenüber, wenn die Golanhöhen morgen zurückgegeben werden? Oder doch lieber mit dem Mörder auf der anderen Seite des Grenzzauns, nicht zuletzt, um die eigene Familie im Dorf nebenan Daara zu schützen?

Unser Zimmervermieter distanziert sich vehement von Assad und seinen Befürwortern. "Denkt nur ja nicht, dass alle hier Assad unterstützen", sagt er uns. Er zitiert Platon und vergleicht diese Befürworter mit Eseln, die nicht denken können. Er erzählt uns von seinem Bruder, der in Syrien Medizin studierte und jetzt mit seiner Familie nach Deutschland geflüchtet ist. Die Familie verkauft Grundstücke im Dorf, damit der Arzt sich in Deutschland eine neue Existenz aufbauen kann. Unser Zimmervermieter erzählt uns das alles ohne die landesüblichen Emotionen, ohne jede Verbitterung. Man arrangiert sich eben mit den Gegebenheiten.
Eine Gruppe Drusen in traditionell-religiöser Kleidung

Irgendwann wird es wieder Diskussionen über eine Rückgabe der Golanhöhen geben. Bis es so weit ist, arbeiten die Drusen hier fleissig, produzieren herrliche Kirschen und Äpfel, man bildet sich (500 Mediziner und 100 Anwälte gebe es im Dorf), und die junge Generation hat sich sehr weit von der traditionellen Lebensweise entfernt. Junge Frauen in hautnahen Jeans und schulterfreien Shirts beherrschen das Strassenbild. Traditionelle Kopfbedeckungen gibt es nur noch bei der Grosselterngeneration. Hier bewegt sich eine kleine Welt, guckt aber auch immer wieder über die Grenze, besorgt, was wohl die Zukunft bringen wird.

Und im Geheimen sind die Menschen sicher dankbar, dass der Grenzzaun östlich des Dorfes verläuft und man so vom Bürgerkrieg verschont bleibt. Das jedoch spricht niemand aus. Und ich nenne auch lieber keine Namen, man weiss ja nie.