Die
Reisesaison im Herbst 2019 hat mich mit meinen Gruppen zu verschiedenen neuen Orten
im Lande Israel gebracht, und hat mich mit einer Reihe von Begegnungen und
Meinungen konfrontiert, denen ich im Kreise von Familie und Freunden nicht
ausgesetzt bin. Normalerweise leben wir in einem sozialen Umfeld, in der wir
uns wohlfühlen, wir konsumieren die «richtigen» Medien, die unsere Meinungen
stärken. Konfrontiert mit anderen Ideen und Ideologien werden wir, und auch da
nur am Rande, in den Sozialmedien.
Auf meinen
Reisen begegne ich neben den vielen deutschsprachigen Touristen Palästinensern,
die wie ich im Tourismus arbeiten, in Israel und im Westjordanland, ich begegne
Reiseleiterkollegen, Siedlern, religiösen und anderen Gruppenleitern. Was ich
unten darstelle, ist nichts Dramatisches oder Systematisches, es ist einfach ein
Kaleidoskop von Eindrücken aus diesem so fazettenreichen Land.
 |
Auf dem Markt in Nethania |
- Ich steige mit 2 Touristen in ein Taxi in der
Weststadt von Jerusalem und bitte den Fahrer, uns zum Löwentor zu fahren, das
in Ostjerusalem liegt. Er meint, dass er da eigentlich nicht hinfahre.
Aha, dies ist also ein jüdischer Israeli, und er hat Bedenken, Angst, in den arabischen
Teil der Stadt zu fahren. Angst ist im Konflikt ein sehr zentrales Thema.
- Ich stehe am Bankomat in Nethania, um Bargeld
einzuzahlen. Ich zögere ein bisschen, das ist keine Tätigkeit, die ich jeden
Tag mache. Sofort will man der ergrauten Frau zu Hilfe kommen, einer mit französischem
Akzent berät mich von der linken Seite, der russische Akzent kommt von der
rechten Seite, gut gemeint. Ich zahle meinen Barbetrag ein, es geht auch ohne
Hilfe der Neueinwanderer. Ich verlasse
die Bank mit einem grossen Schmunzeln. Stellt Euch sowas in Europa vor, wo Privatsphäre eher respektiert wird.
 |
Warten auf die Taxis |
- Der Taborberg kann nur mit Minibussen erreicht
werden, während der Hochsaison wird das zur Herausforderung für uns Reiseleiter
mit Gruppen. Lange Wartezeiten vor den Taxen sind die Regel, laute Diskussionen
ebenfalls, unten am Berg und auch oben. Ich verteidige meine Gruppe gegen einen
von hinten vordrängenden Priester, damit meine Gruppe zuerst ins Taxi
einsteigen kann. Drohend erhebt er die Hand gegen mich, gleich zwei Mal, weil
ich nicht bereit bin, ihn vorzulassen. Er ist mindestens ein Kopf grösser als
ich. Eine Frau aus seiner Gruppe entschuldigt sich im Taxi über sein Betragen.
 |
Orientalische Weihnachtsbeleuchtung |
- Mein drusischer Busfahrer Marzuk (ethnische
Minderheit, loyal dem Staat Israel gegenüber) fährt uns durch Nazareth, die
grösste arabisch-palästinensische Stadt im Kernland Israels. Der Verkehr ist
hier immer chaotisch, sogar dreifach parken gibt es hier. Marzuk kurvt durch
das Chaos auf der Paulus XI. Strasse und meint: «guck dir mal das an, und die
(gemeint sind die Palästinenser) wollen ihren eigenen Staat. Wie meinen die eigentlich, wie
das funktionieren soll?»
- Etwas später in Nazareth, auf dem Verkehrskreis
unterhalb der Basilika, um 15.30 Uhr: der Platz ist herrlich kitschig für
Weihnachten geschmückt, so ist das im Orient, und der Muezzin mit einer
wunderschönen Stimme ruft zum Nachmittagsgebet. Freude erfüllt mich: so
soll es sein, wir befinden uns mitten im jüdischen Staat, und alle haben ein
Anrecht auf ihre Traditionen, mit gutem Willen ist vieles möglich.
 |
Das erste Schriftzeichen |
- In Maschad, einem arabischen Dorf nebenan
Nazareth, möchten wir die Moschee besuchen. Sie wird renoviert, wir kommen mit
dem Baumeister ins Gespräch, dann tritt der Künstler Jamil Anbatani zu uns.
Jamil ermöglicht uns, die Moschee zu betreten, obwohl es eine Baustelle ist. Er
wird mit dem Hebekran in den Dom gehoben und wir werden Zeugen der ersten
Schriftzeichen, die neu gemalt werden. Wir sind richtige Glückspilze. Hier ein
Link zu seinen Arbeiten.
https://www.youtube.com/watch?v=6JcJi6CRj7k&t=60s
- Wir treffen Jalila in einem gepflegten arabisch-muslimischen
Dorf im Norden Israels. Sie unterrichtet an der örtlichen Schule, arbeitet viel
mit jungen Mädchen, und setzt sich für ihre Emanzipation ein. Als Kleinunternehmerin
bewirtet sie Gäste in ihrem Haus. Bewegend ist ihre persönliche Geschichte: sie
hat sich von ihrem Mann scheiden lassen, als er eine zweite Frau geheiratet
hat. Sie meint, dass der Staat Israel ihre Rechte schützt. https://www.facebook.com/galilafood/
- Ich checke eine Gruppe Touristen am Flughafen
ein. Der vor mir stehende Mann fragt mich auf Hebräisch, ob er
hier richtig stehe für Lufthansa. Ich deute auf das Schild und antworte ihm:
«guck dort, da steht es doch geschrieben». Seine Antwort lautet: «ich kann das
nicht lesen». Er ist ein orthodoxer jüdischer Israeli, der in seiner vom Staat
Israel finanzierten orthodoxen Schule weder Mathe noch Englisch noch
Wissenschaften lernt, sondern nur religiöse Studien. Diese Fakten gebe ich mit
viel Herzblut und Kritik an meine Touristen weiter. Nun steht ein lebendiges Beispiel vor
mir, ein gebildeter Mann, der das einfache Schild «Lufthansa» nicht lesen kann.
 |
Es weihnachtet in Bethlehem |
- In der jüdischen Siedlung Shilo im Westjordanland,
wo laut der Überlieferung die Bundeslade stand, deutet unser lokaler
Reiseleiter auf die Umgebung: hier liegt das palästinensische Dorf A, dort Dorf
B, sie sind auf ehemaligen Dörfern aus der Kreuzritterzeit gebaut. Dorf C wurde
auf einem ehemaligen jüdischen Dorf errichtet. Auf der Weiterfahrt spreche ich
meinen Gruppenleiter darauf an, beide finden wir, dass mein Kollege aus der
Siedlung durch seine Aussage den palästinensischen Dörfern die Legitimität
abspricht.
- Bei der Durchfahrt durchs palästinensische Beit
Jala im Westjordanland erzähle ich einer Gruppe über die Begegnung mit dem dortigen
Bürgermeister vor 2 Jahren. Er hat uns über die Besatzung, die Landenteignungen
unterrichtet, über die fehlenden Perspektiven. Ich tue mich jedoch auch schwer mit der pal. Opferhaltung und dem ewigen Gejammer. Es ist bequem, dann muss man selber nichts tun. Meint die hinter mir sitzende
Gruppenleiterin: «Du triffst Dich eben nicht mit den richtigen Leuten.» Na,
immerhin ist er der Bürgermeister.
- Und zum Abschluss etwas, das mir das Herz erwärmt
hat. Ich sitze am Shabbat im Sammeltaxi von Nethania nach Tel Aviv. Die meisten
Mitfahrer sind Fremdarbeiter, Philippinas und Schwarzafrikaner. Der Taxifahrer
ist ein älterer frommer Palästinenser muslimischen Glaubens. Eine Philippinerin steigt aus und verabschiedet
sich vom Busfahrer: «Shabbat Shalom». Er grüsst mit einem
warmherzigen «Shabbat Shalom» zurück. Ich spreche ihn beim Aussteigen darauf
an, und er meint: «das ist doch einfach so, von Mensch zu Mensch».
So sollten
wir doch alle etwas mehr Menschen sein und etwas weniger nur unser eigenes
soziales Umfeld oder unseren eigenen Stamm gelten lassen. Der Präsident des
Staates Israel, Reuven Rivlin, hat dies 2015 sehr eindrücklich dargestellt.