Sunday, October 18, 2020

Wenn ein Angeklagter ein Land regiert.....

 .....ist vieles erlaubt. Alles wird dem Machterhalt und dem Versuch untergeordnet, sich nicht vor Gericht verantworten zu müssen. Die Vorwürfe sind gravierend, Korruption, Betrug und Machtmissbrauch können den Angeklagten für Jahre hinter Gitter bringen. Das sind durchaus nicht rosige Aussichten für unseren Regierungschef. Dazu kommen in den letzten Monaten die Anti-Regierungsdemonstrationen, die den Chef und seine Familie beunruhigen, da sie gleich neben ihrer Residenz an der Balfourstrasse in Jerusalem stattfinden, 2-3 Mal pro Woche.

Misstrauensvotum: Lügner
Begegnung mit den Friedensfrauen
Balfour-Demo Jerusalem. Gleich um die Ecke liegt
die offizielle Residenz des Angeklagten.


Caesarea, in der Nähe der Privatresidenz des Angeklagten


Mitte September 2020 wurden 9 Millionen Menschen, ein ganzes Land, in den 2. Lockdown geschickt, nachdem Israel weltweit mit den höchsten Ansteckungsraten pro Kopf brillierte. Auch Demonstrationen wurden eingeschränkt, auf 1 km von Zuhause. Letztes Wochenende haben landesweit 210,000 Menschen demonstriert, auf Hunderten von Plätzen und an Kreuzungen, die Zahl wächst jede Woche. Diese Woche waren es bereits 260,000.

Der 2. Lockdown ist ein politischer Lockdown. Es hätte anders sein können. Wie in anderen Ländern hätte man die «roten» Städte, diejenigen mit hohen Ansteckungsraten, mit lokalen Einschränkungen und Lockdowns belegen können. Hierzulande werden diese Städte zum grossen Teil von ultra-orthodoxen Juden bewohnt, die das Rückgrat des Angeklagten in der Regierungkoalition bilden, seine «natürlichen Partner». Also keine Einschränkungen, bis die Ansteckungsraten so hoch wurden, das keine andere Wahl blieb, als die ganze Bevölkerung kollektiv mit einem Lockdown zu bestrafen.

Die Stimmung im Lande reicht von Wut zu Depression, Angst um das Einkommen, Auseinandersetzung mit Kindern, die seit Monaten kaum zur Schule gehen, Eltern, die verzweifelt zwischen Homeoffice, Arbeitslosigkeit und Kinderbetreuung jonglieren, alte Menschen, die vereinsamen und von Angst umgetrieben werden, sich anzustecken. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen des 2. Lockdowns werden gravierend sein. Diese Woche haben Ladenbesitzer im armen Süden von Tel Aviv ihre Habe auf die Strasse getragen und verbrannt.

Von der Weltöffentlichkeit wenig beachtet, geschehen hier Dinge, die zu einem grossen Vertrauensbruch zwischen den Regierenden und der Verwaltung auf der einen Seite und der Bevölkerung auf der anderen Seite geführt haben. Dieser Prozess hat schon lange vor der Coronakrise begonnen, wurde nun aber deutlich verschärft.

Seit 2 Jahren haben wir kein Staatsbudget. Nun wird um das Budget 2021 gerangelt, das so dringend nötig wäre als Arbeitsplan für die Regierung. Ohne Budget kann man erstens zu gegebener Zeit Neuwahlen ausrufen und zweitens beliebig Geld verteilen, wenn verschiedene Lobbyisten und Bevölkerungsgruppen beruhigt werden müssen. Neuwahlen, 4. Rundgang in weniger als 2 Jahren? Gekoppelt mit den Gerichtsverhandlungen des Angeklagten, die im Dezember oder Januar beginnen, gibt ihm das neues Schlupfloch für eine weitere Übergangsregierung.

Seit 2 Jahren haben wir keinen Polizeikommissar, diese Schlüsselstellung wird von einem Stellvertreter gehalten. Der Polizeiminister ist ein Lakai des Regierungschefs, eine sehr schlaue Ernennung. Vorher leitete er das Justizministerium, interessant. Die Polizeiübergriffe auf die Demonstranten an den Antiregierungs-Protesten werden immer brutaler, weil es welche bei der Polizei gibt, die gerne diesen obersten Job möchten. Die Polizei wird als Machtwerkzeug politisiert und missbraucht. Grossveranstaltungen der ultra-orthodoxen Gemeinden werden geduldet, es soll geheime Abkommen zwischen den Rabbinern und der Polizei geben. Coronaansteckungen in diesen Gemeinden sind weiterhin sehr hoch.

Dieses Bild stammt aus den Sozialen Medien. Eine 17-jährige junge Frau wird von einem Undercover Polizist brutal in ein Auto geschoben. Dieses Bild schmerzt mich mehr als alles jetzt publizierte. Ich frage mich, was in den Köpfen der Polizisten, die da alle glotzen, vorgeht.
Publizistin: Ketty Bar, Gründerin der Organisation "Mütter gegen Polizeigewalt". 


Seit 2 Jahren haben wir keinen Staatsanwalt, der Angeklagte darf wegen Interessenskonflikten keinen ernennen. Die Staatsanwaltschaft wird von den zum grossen Teil vom Angeklagten kontrollierten Medien bezichtigt, mit dem «Deep State» zusammenzuarbeiten, damit der Regierungschef ins Gefängnis kommt. Die Richterinnen im Prozess gegen den Angeklagten, sowie der Generalstaatsanwalt Avichai Mendelblit, der sich nach langem Zögern für eine Anklage des Regierungschefs entschieden hat, werden bedroht und müssen polizeilich geschützt.

Den Vogel abgeschossen hat diese Woche ein führender Funktionär der Regierungspartei, der als Geschäftsführer des Parlamentes amtiert. Er meinte, dass der Generalstaatsanwalt Mendelblit seine Anklage gegen den Regierungschef zurückziehen solle, ansonsten werden Videos publiziert, die ihn der Korruption überführen könnten. Sizilien’s Mafia kann davon etwas lernen.

Reihenweise werden Politiker und hohe Beamte erwischt, die sich nicht an die von ihnen selber aufgestellten Regeln und Notstandsgesetze halten. Auf das Verleugnen folgt eine lauwarme Entschuldigung im Stil von «ich habe es nicht gewusst». Hat jemand mal daran gedacht, dass er seine Stellung künden sollte?

Letzten Samstag nach den Demonstrationen haben wir zum 1. Mal seit langer langer Zeit den Fernseher angestellt, um zu sehen, was darüber berichtet wird. Auf dem einen Kanal wurde der Polizeiminister interviewt. Nach einigen Minuten wechselten wir angewidert auf einen anderen Kanal über. Da wurde der Geschäftsführer des Parlamentes interviewt. Das wars dann,TV abgestellt. In Deutschland nennte man das mal Gleichschaltung.

Bananenrepublik. Machtmissbrauch. Mafiöse Handlungen. Kontrollierte Massenmedien. Mit langer Hand aufgebaute Konzentration der Entscheidungsgewalt beim Regierungschef. Hörige Lakaien. Das Prisma «wie zieh ich meinen Kopf aus der Schlinge der Justiz» rechtfertigt alles.

Aber: irgendwo da draussen gibt es 9 Millionen Menschen, gibt es mehr als 1 Million Arbeitslose, eine Gesundheits- und Wirtschaftskrise ohnegleichen. Mir persönlich ist das Vertrauen in die Regierung und die Behörden völlig abhanden gekommen, und das finde ich traurig und bedenklich. Gerne hätte ich es anders.

Mit Ehemann Chaim an der nächsten
Kreuzung während des Lockdown

Arbeitslos seit dem 6. März 2020, aber vielgeschäftigt.