Saturday, July 26, 2014

Abgetaucht

Letzte Woche habe ich den neuen Marco Polo Reisekatalog fürs Jahr 2015 erhalten. Im Reiseangebot für Israel wird Tel Aviv als quicklebendige Stadt beschrieben. Das ist sie auch, während normalen Tagen, und dies ist das Land, das ich so sehr liebe, dieses Land mit seiner übersprudelnden Dynamik und Energie, seiner Fröhlichkeit und Spontaneität.

Flughafen Ben Gurion Juli 2014
Aber seit Wochen, seit dieser neue Schlagabtausch mit der Hamas im Gazastreifen begonnen hat, sind alle Menschen abgetaucht. Es sind Tage, an denen wir alle den Kopf hängen lassen, Tage der Depression, Tage eines nahezu komatösen Zustandes. Die Strassen sind wenig belebt, und wer herumgeht, schweigt. Es gibt keinen Lärm, kein Geschrei, die Ladenbesitzer sitzen untätig in ihren Geschäften herum und widmen sich vor allem den Nachrichten, schliessen früher als gewöhnlich. Es gibt viele Menschen, die Angst haben vor den Raketenangriffen und lieber zuhause bleiben. Unserer aller Gedanken weilen bei den Menschen im Süden, bei unseren Soldaten, bei den Menschen in unseren Dörfern und Städten, die seit Wochen von Raketen beschossen werden, Menschen, die 10-30 Sekunden Zeit haben, um einen Schutzraum aufzusuchen. Wer differenzierter mit dem Konflikt umgehen kann, und nicht nur das Recht auf Verteidigung auf der israelischen Seite sieht und die Schuld der Hamas auf der anderen Seite, kann auch mit den schutzlos ausgelieferten Menschen im Gazastreifen mitfühlen, den Hauptleidenden dieser Tragödie, hilflos unserer Armee und der verantwortungslosen Hamas ausgeliefert, die sich nicht um ihre eigene Zivilbevölkerung schert.

Ab und zu stelle ich den Fernseher an, sitze kopfschüttelnd davor und stelle nach wenigen Minuten wieder ab. Ich verstehe die Welt nicht, wenn die Waffen sprechen, und werde sie auch nie verstehen. Gleichzeitig entwickle ich einen neuen Wortschatz, den ich jeweils gleich wieder vergesse, wenn der Spuk vorbei ist: ballistische Raketen, das Raketenabwehrsystem Eisendom, diese wunderbare israelische Erfindung, die einen Grossteil der Raketen über unseren Städten abfängt. Panzer, Bunker, Tunnels, Angriffe der Luftwaffe, Einschläge, Mörser sind einige weitere Blüten dieses erneuerten Wortschatzes. Ich lerne neue Raketennamen kennen, und ich weiss sogar ihre Herkunft, z. Bsp. F-160, Reichweite von Gaza bis Haifa, 160 km, ein syrisches Produkt. Dieses Produkt löst in unserem ruhigen Dorf mehrere Male einen Luftalarm aus. Unser Haus liegt 100 m von der Sirene entfernt, der Lärm ist schrecklich, die Rakete schlägt in 15 km Entfernung auf offenem Gelände ein.

Luftalarm in Tel Aviv. Ich sitze mit einer Bekannten in einem Kafi, wir begeben uns ins nächste Gebäude, gleich nebenan, gemeinsam mit Bewohnern und Passanten. Die meisten begeben sich in den Luftschutzkeller, ich bleibe lieber im Treppenhaus sitzen, geschützt von 3 Wänden, wo ich mich belehren lasse, dass Raketenteile auf dem Boden landen und von da auf alle Seiten fliegen. Aus diesem Grund muss man sich irgendwo unterstellen, wo man von Mauern geschützt ist, oder sich flach auf den Boden legen, damit die Teile über den Körper hinweg fliegen. Nach zwei Minuten hören wir zweimal einen lauten Bumm über der Stadt, das Raketenabwehrsystem hat die Raketen in der Luft aufgefangen, und wir setzen uns wieder ins Kafi.

Wie können sich die Menschen in Gaza schützen? Gar nicht, nur "Ausgewählte", die Hamasbonzen, verschanzen sich in Bunkern.

Eingang in Luftschutzraum in Tel Aviv
Menschen reagieren sehr verschieden auf Bedrohungen. Eine Freundin von mir, Gärtnerin von Beruf, erzählt mir, dass eine ältere Kundin in Tel Aviv ihre Blumen nicht mehr giesst, weil sie Angst hat, sich draussen aufzuhalten. Ich besuche eine weitere Freundin, alleinerziehend mit 2 kleinen Kindern. Seit Wochen hat sie ihre Stadt nicht verlassen und schläft mit den Kindern im Luftschutzraum. Die Kinder finden das natürlich toll, sie jedoch tut sich schwer mit der grossen Verantwortung.

Mit unseren Kindern verabreden wir ein Picnic am Meer in Tel Aviv. Auch hier ist es viel viel ruhiger als gewöhnlich. Die Muslime aus Jaffa, die sonst die späten Nachmittagsstunden und Abende am Strand verbringen, feiern Ramadan, lange und heisse Fastentage, von Sonnenaufgang bis –untergang. Vielleicht fürchten sie sich auch vor den Hamasraketen,  die differenzieren nämlich nicht zwischen Juden und Arabern. Beim Luftalarm flüchte ich mit einem Teil der Familie zu einem Unterstand, der andere Teil der Familie guckt sich das Schauspiel an: zwei Raketen, die vom Eisendom abgeschossen werden. Ich finde das unklug.

Zynisch nenne ich mich arbeitslose Reiseleiterin. Alle Sommerreisen sind storniert, die Herbstsaison wird sehr schwach werden, obwohl bereits um einen Waffenstillstand gerungen wird. Eine ernüchternde Bilanz. Wirtschaftliche Konsequenzen sind ein weiterer Teil dieser ganzen Sinnlosigkeit.

Bald werden wir wieder auftauchen, in Israel und im Gazastreifen, wir werden die Wunden lecken, um die Toten trauern, und uns auf die nächste Runde vorbereiten. So wird uns das verkauft – es gibt keinen Ausweg, die andere Seite will nicht. Immer sind die anderen schuld, so einfach ist das.


Wenn Kriege immer unentschieden enden, so habe ich irgendwo gelesen, lehnt sich die Bevölkerung schlussendlich dagegen auf, weil sie den Sinn der Opfer nicht einsieht. Vielleicht sind wir jetzt endlich so weit?

Monday, July 7, 2014

Gesucht wird - Goethe's Hexenmeister

In der Schule haben wir nicht wenig Gedichte gelernt, die meisten habe ich vergessen, nur der Zauberlehrling von Goethe ist mir gegenwärtig. Der Hexenmeister ist ausgegangen und hat seinen Lehrling beauftragt, Wasser für ein Bad zu holen, vom Fluss. Der aber ist zu faul, will sich auch in der Kunst des Zaubern üben und befiehlt dem alten Besen in der Ecke, das Wasser an seiner Stelle zu holen.

Walle! walle
Manche Strecke,
Dass, zum Zwecke,
Wasser fließe
Und mit reichem, vollem Schwalle
 Zu dem Bade sich ergieße.

Entführt und ermordet: Eyal, Gilad, Naftali, Mohammed.


Vor 3 Wochen wurden 3 jugendliche Israelis, Eyal, Gilad und Naftali, an einer Kreuzung des Siedlungsgebietes Gush Etzion im Westjordanland, westlich von Hebron, gekidnappt. Eine berührende Eigenschaft der israelischen Gesellschaft ist das Zusammengehörigkeitsgefühl in schweren Tagen. Eine ganze Nation hat diese jungen sympathischen Menschen umarmt, adoptiert, man hat gebetet und gehofft, dass man sie lebend wieder findet. In allen Medien, von Tel Aviv bis New York waren sie allgegenwärtig, auf den Bahnhöfen wurden Flyer verteilt, an der Klagemauer in Jerusalem wurde gebetet, auf dem Rabinplatz in Tel Aviv, dem traditionellen Ort der linken Demonstrationen, gab es eine Kundgebung. Das Ganze entwickelte sich zu einer überspannten Massenhysterie, derer man nicht entfliehen konnte oder auch nicht wollte.

Seht, er läuft zum Ufer nieder,
Wahrlich! ist schon an dem Flusse,
Und mit Blitzesschnelle wieder
Ist er hier mit raschem Gusse.

Die meisten israelischen Politiker, die ganze Mitte-Rechts- bis sehr-Rechts-Regierung, sie alle haben keine Chance ausgelassen, diese traurige Angelegenheit politisch und militärisch auszuschlachten, von fragwürdigen Gesetzgebungen, die im Schnellverfahren in der Knesset verabschiedet wurden bis zu massiven Verhaftungen von Hamasmitgliedern im Westjordanland. Und aufs Feuer der nationalen Massenhysterie wurde immer neu Öl gegossen. Man zählte die Tage seit der Entführung, die antiarabischen Bemerkungen schlugen besonders hohe Wellen, die Hamas wurde ebenso beschuldigt (zu Recht, die Entführer sind Mitgleider einer Hamaszelle in Hebron) wie Mahmud Abbas die Verantwortung zur sicheren Heimkehr der drei Jugendlichen aufgebürdet.

Schon zum zweiten Male!
Wie das Becken schwillt!
Wie sich jede Schale
Voll mit Wasser füllt!

Und dann kam die grosse Ernüchterung, die Leichen wurden gefunden, kurz nach der Entführung bereits erschossen. Eine Nation in Trauer, es sind ja unserer aller Kinder, Tränen, Kerzen, Gedenkfeiern, eine Bestattung mit drei Särgen, auf allen Fernsehsendern übertragen. Nur auf dem arabischen Fernsehkanal wurde die WM übertragen - Argentinien-Schweiz.

Aber auch - eine Nation in Wut, die zur Rache an den Palästinensern, zur Todesstrafe für Terroristen aufruft, Extremisten, die einen Rachefeldzug durch die Weststadt von Jerusalem auf der Suche nach Arabern machen, die dort in Restaurants arbeiten und von der Polizei beschützt werden müssen. Raketen aus Gaza, Vergeltungschläge unserer Luftwaffe, und dann wird ein arabischer Jugendlicher, Mohammed aus dem Ostjerusalemer Viertel Shoafat, tot in einem Wald in der Weststadt gefunden. Die Polizei ermittelt, aber nach wenigen Tagen ist so gut wie sicher, dass er von Juden verschleppt und ermordet wurde.

Stehe! stehe!
Denn wir haben
Deiner Gaben
Vollgemessen!

Und jetzt, nachdem der Besen immer mehr Wasser ins Haus gebracht hat, die Raketen im Süden immer noch einschlagen, arabische Jugendliche und die Polizei sich Strassenschlachten liefern in Jerusalem, die Spannung auch in den arabischen Siedlungsgebieten im Norden und im Zentrum des Landes spürbar ist, und Vermutungen über eine eventuelle dritte Intifada angestellt werden? Wie lautet der Befehl, den Besen wieder in die Ecke zu stellen?

Ach, ich merk es! Wehe, wehe!
Hab ich doch das Wort vergessen!

Eine verantwortliche Regierung hätte die Gemüter bereits in den ersten Anfängen beruhigen und die Stimmung nicht immer mehr aufheizen sollen. Der Kopf dieser Regierung, Ministerpräsident Netanyahu, ist eigentlich kein Zauberlehrling mehr, nach beinahe 10 Jahren im Amt sollte er ein ausgereifter Meister seines Faches sein, er hat jedoch kräftig mitgemischt und die Stimmung mitdirigiert.

Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist gross!
Die ich rief, die Geister,
werd ich nun nicht los.

Wer ist nun, in dieser neuen Version des israelisch-palästinensischen Dramas, der alte Meister, der den Besen wieder in die Ecke stellt? Ich weiss es nicht.

In die Ecke
Besen, Besen!
Seids gewesen,
denn als Geister
ruft euch nur zu seinem Zwecke

erst hervor der alte Meister