Letzte Woche habe ich den neuen Marco Polo Reisekatalog fürs Jahr 2015 erhalten. Im Reiseangebot für Israel
wird Tel Aviv als quicklebendige Stadt beschrieben. Das ist sie auch, während
normalen Tagen, und dies ist das Land, das ich so sehr liebe, dieses Land mit
seiner übersprudelnden Dynamik und Energie, seiner Fröhlichkeit und
Spontaneität.
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Flughafen Ben Gurion Juli 2014 |
Aber seit Wochen, seit dieser neue Schlagabtausch mit
der Hamas im Gazastreifen begonnen hat, sind alle Menschen abgetaucht. Es sind
Tage, an denen wir alle den Kopf hängen lassen, Tage der Depression, Tage eines
nahezu komatösen Zustandes. Die Strassen sind wenig belebt, und wer herumgeht,
schweigt. Es gibt keinen Lärm, kein Geschrei, die Ladenbesitzer sitzen untätig
in ihren Geschäften herum und widmen sich vor allem den Nachrichten, schliessen
früher als gewöhnlich. Es gibt viele Menschen, die Angst haben vor den Raketenangriffen
und lieber zuhause bleiben. Unserer aller Gedanken weilen bei den Menschen im Süden,
bei unseren Soldaten, bei den Menschen in unseren Dörfern und Städten, die seit
Wochen von Raketen beschossen werden, Menschen, die 10-30 Sekunden Zeit haben, um
einen Schutzraum aufzusuchen. Wer differenzierter mit dem Konflikt umgehen
kann, und nicht nur das Recht auf Verteidigung auf der israelischen Seite sieht
und die Schuld der Hamas auf der anderen Seite, kann auch mit den schutzlos
ausgelieferten Menschen im Gazastreifen mitfühlen, den Hauptleidenden dieser Tragödie, hilflos
unserer Armee und der verantwortungslosen Hamas ausgeliefert, die sich nicht um
ihre eigene Zivilbevölkerung schert.
Ab und zu stelle ich den Fernseher an, sitze kopfschüttelnd
davor und stelle nach wenigen Minuten wieder ab. Ich verstehe die Welt nicht,
wenn die Waffen sprechen, und werde sie auch nie verstehen. Gleichzeitig
entwickle ich einen neuen Wortschatz, den ich jeweils gleich wieder vergesse,
wenn der Spuk vorbei ist: ballistische Raketen, das Raketenabwehrsystem
Eisendom, diese wunderbare israelische Erfindung, die einen Grossteil der
Raketen über unseren Städten abfängt. Panzer, Bunker, Tunnels, Angriffe der
Luftwaffe, Einschläge, Mörser sind einige weitere Blüten dieses erneuerten
Wortschatzes. Ich lerne neue Raketennamen kennen, und ich weiss sogar ihre
Herkunft, z. Bsp. F-160, Reichweite von Gaza bis Haifa, 160 km, ein syrisches
Produkt. Dieses Produkt löst in unserem ruhigen Dorf mehrere Male einen Luftalarm
aus. Unser Haus liegt 100 m von der Sirene entfernt, der Lärm ist schrecklich,
die Rakete schlägt in 15 km Entfernung auf offenem Gelände ein.
Luftalarm in Tel Aviv. Ich sitze mit einer Bekannten in
einem Kafi, wir begeben uns ins nächste Gebäude, gleich nebenan, gemeinsam mit
Bewohnern und Passanten. Die meisten begeben sich in den Luftschutzkeller, ich
bleibe lieber im Treppenhaus sitzen, geschützt von 3 Wänden, wo ich mich
belehren lasse, dass Raketenteile auf dem Boden landen und von da auf alle
Seiten fliegen. Aus diesem Grund muss man sich irgendwo unterstellen, wo man
von Mauern geschützt ist, oder sich flach auf den Boden legen, damit die Teile über
den Körper hinweg fliegen. Nach zwei Minuten hören wir zweimal einen lauten
Bumm über der Stadt, das Raketenabwehrsystem hat die Raketen in der Luft aufgefangen,
und wir setzen uns wieder ins Kafi.
Wie können sich die Menschen in Gaza schützen? Gar nicht,
nur "Ausgewählte", die Hamasbonzen, verschanzen sich in Bunkern.
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Eingang in Luftschutzraum in Tel Aviv |
Menschen reagieren sehr verschieden auf Bedrohungen. Eine
Freundin von mir, Gärtnerin von Beruf, erzählt mir, dass eine ältere Kundin in
Tel Aviv ihre Blumen nicht mehr giesst, weil sie Angst hat, sich draussen
aufzuhalten. Ich besuche eine weitere Freundin, alleinerziehend mit 2 kleinen
Kindern. Seit Wochen hat sie ihre Stadt nicht verlassen und schläft mit den
Kindern im Luftschutzraum. Die Kinder finden das natürlich toll, sie jedoch tut
sich schwer mit der grossen Verantwortung.
Mit unseren Kindern verabreden wir ein Picnic am Meer in
Tel Aviv. Auch hier ist es viel viel ruhiger als gewöhnlich. Die Muslime aus
Jaffa, die sonst die späten Nachmittagsstunden und Abende am Strand verbringen,
feiern Ramadan, lange und heisse Fastentage, von Sonnenaufgang bis –untergang. Vielleicht
fürchten sie sich auch vor den Hamasraketen,
die differenzieren nämlich nicht zwischen Juden und Arabern. Beim
Luftalarm flüchte ich mit einem Teil der Familie zu einem Unterstand, der
andere Teil der Familie guckt sich das Schauspiel an: zwei Raketen, die vom
Eisendom abgeschossen werden. Ich finde das unklug.
Zynisch nenne ich mich arbeitslose Reiseleiterin.
Alle Sommerreisen sind storniert, die Herbstsaison wird sehr schwach werden, obwohl
bereits um einen Waffenstillstand gerungen wird. Eine ernüchternde Bilanz.
Wirtschaftliche Konsequenzen sind ein weiterer Teil dieser ganzen Sinnlosigkeit.
Bald werden wir wieder auftauchen, in Israel und im
Gazastreifen, wir werden die Wunden lecken, um die Toten trauern, und uns auf
die nächste Runde vorbereiten. So wird uns das verkauft – es gibt keinen Ausweg,
die andere Seite will nicht. Immer sind die anderen schuld, so einfach ist das.
Wenn Kriege immer unentschieden enden, so habe ich
irgendwo gelesen, lehnt sich die Bevölkerung schlussendlich dagegen auf, weil
sie den Sinn der Opfer nicht einsieht. Vielleicht sind wir jetzt endlich so
weit?