Monday, October 13, 2014

Von Zur Mosche nach Kastorià und zurück

Am Stadteingang von
Kastoria, Oktober 2014
Kastorià liegt im Nordwesten von Griechenland, nahe der albanischen Grenze, wunderschön an einem See, umgeben von Bergen und Wäldern.
Zur Mosche heißt der Moschav (genossenschaftliche Siedlung), in dem wir seit 14 Jahren leben.

Gleich zu Anfang, als wir mit der ganzen Familie im Herbst 2000 nach Zur Mosche zogen, machte ich Bekanntschaft mit einem der Gründer des Moschav, Mosche Chuli, einem damals noch rüstigen, gut 80-jährigen Mann. An so manchem Freitagvormittag setzte ich mich zu ihm und seiner Frau Simcha und erfuhr jede Menge Geschichten aus den alten Zeiten. Er erzählte mir von den Gründerjahren des Moschavs im Jahre 1937, von den harten Zeiten, vom Krieg gegen die arabischen Freischärler, vom Mangel an Wasser, Essen, Lohnarbeit, Geld. Immer wieder schweiften die Gedanken von Mosche zurück nach Griechenland. Dort waren sie aufgewachsen: Mosche in Thessaloniki, Simcha in Kastorià.

Zur Mosche ist das einzige Dorf in Israel, das von Juden aus Griechenland gegründet wurde. In den ersten Jahren nannte ich Zur Mosche im Stillen manchmal „mein griechisches Dorf“. Damals gab es hier Festlichkeiten mit griechischer Musik und griechischem Essen, und Großvater Russo sang jeweils nach einigen Gläschen Uzo griechische Liebeslieder und betonte immer wieder, Griechisch sei die schönste Sprache der Welt und nur in ihr könne man die Liebe zu einer Frau ausdrücken. Das war vor 10 Jahren, und seither hat sich viel verändert. Das Dorf ist gewachsen, die Gründergeneration ist gestorben, und Großvater Russo fährt nicht mehr mit seinem klapprigen Auto durchs Dorf.

An diesem Ort, am 24. März 1944, sammelten die Nazis
1000 Juden von Kastoria und deportieren
sie in die Todeslager von Auschwitz.
Nur 35 Überlebende kehrten zurück. 
Letzte Woche reisten wir auf den Spuren der griechischen Juden nach Kastorià und Thessaloniki. Im März 1944 waren alle Juden von Kastorià, 1000 an der Zahl, nach Auschwitz deportiert worden, 35 kehrten zurück und wanderten wieder ab. Außer einem Denkmal in griechischer und englischer Sprache erinnert nichts mehr an diese Gemeinde.
Wir zünden 2 Kerzen an und denken an die Geschichten von Mosche und Simcha Chuli. Bei einer Fahrt durch die weiten Berge und Wälder frage ich mich immer wieder: „Warum? Warum nur sind die Menschen nicht in die Berge geflüchtet damals? Sie waren doch so nahe". Man sagt uns, hier in Kastorià lebt nur noch ein einziger Jude.


Die 49.000 jüdischen Bewohner von Thessaloniki wurden 1943 nach Polen deportiert, 97% von ihnen kehrten nie zurück. Auch das bringt mir eine persönliche Geschichte in Erinnerung, die Großvater Russo an einem Shoahgedenktag in Zur Mosche erzählt hat. Er hatte den Krieg als Partisan im Süden Griechenlands überlebt, bevor er in sein Dorf in Nordgriechenland zurückkehrte. „Und alles war leer, LEER! Niemand kam zurück. Und so ging ich dann nach Palästina.“ In ganz einfachen Worten hat er das erzählt, und ich habe es nie vergessen.

Bevölkerungsentwicklung Thessalonikis nach ethnisch-religiösen
Gruppen, von 1500 - 1950.
Quelle: Wikipedia.
Thessaloniki war ab dem 16. Jahrhundert eine blühende Handelsstadt mit zeitweilig mehrheitlicher jüdischer Bevölkerung – spanische Juden, während der Inquisition ausgewiesen und im osmanischen Reich willkommen geheißen. Die Besonderheit der Juden von Thessaloniki liegt in ihrer einzigartigen Mitwirkung in allen wirtschaftlichen Nischen: ihre Präsenz und ihr Engagement beschränkten sich nicht auf einige wenige Bereiche, vielmehr waren sie in allen Wirtschaftszweigen, in allen Schichten der Gesellschaft  vertreten, von Trägern im Hafen bis hin zu Kaufleuten. Es gab in Thessaloniki auch eine große Anzahl jüdischer Fischer – nicht gerade ein typischer Beruf für Juden.

Im unteren Teil dieses Fotos, aufgenommen im jüdischen Museum
in Thessaloniki, sind Mitglieder der Familie Chuli (hier Huli)
aufgelistet, die von den Nazis ermordet wurden.
Und heute? Eine Gemeinde von gerade mal 1000 Juden. Im überwachten jüdischen Museum erklärt man uns, die Synagoge sei sehr schwer zu finden, man müsse durch einen Hauseingang in einen Hinterhof gehen, die Synagoge liege im Keller, Hinweisschilder gebe es keine. Hitler hat gründliche Arbeit geleistet, damals, und heute versteckt man die Synagoge lieber – aus Angst vor Extremisten verschiedenster Couleur.


Ich mag Griechenland sehr, aber die Suche nach jüdischen Spuren stimmt nachdenklich, hält sie uns doch die Vernichtung jüdischen Lebens in Europa wieder einmal allzu deutlich vor Augen. So kehre ich am Ende unserer Reise gerne wieder zurück in mein „griechisches Dorf“, auch wenn es so griechisch gar nicht mehr ist. Das Judentum jedoch lebt hier weiter.

  

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