Sunday, June 21, 2015

Zwischen Orthodoxie, Veränderung und Gleichgültigkeit

Vor geraumer Zeit wurde ich auf eine jüdisch-feministische Gruppe aufmerksam, die sich „Women of the Wall“ nennt; eine meiner Reisegruppen hat sich auch mit Batya getroffen, die in dieser Bewegung eine führende Rolle spielt.

Die Gruppe besteht seit 26 Jahren und kämpft für das Recht von Frauen, an der Klagemauer gemeinsam laut beten und singen zu dürfen, Tallit (Gebetschal) und Tefilin (Gebetsriemen) zu tragen und aus der Thora vorzulesen – lauter Dinge, die das orthodoxe Judentum den Frauen nicht gestattet. Die „Women of the Wall“ sind zum großen Teil Einwanderinnen aus den USA und gehören zur dort größten Strömung des Judentums, dem Reformjudentum. Seit Jahren streiten sie für religiöse Gleichberechtigung und haben in einigen Punkten vor dem Hohen Gericht einen Durchbruch erzielt. Link zur Webseite von Women of the Wall

Am 1. Tag des Monats Tammuz, der wie jeder jüdische (und auch muslimische) Monat bei Neumond beginnt, habe ich am frühen Morgen die Klagemauer aufgesucht.

6.30 Uhr: Bereits aus großer Entfernung hört man die Männer singen, sie beten und tanzen, laut, gemeinsam, so ist es Brauch, so bestimmt es die Halacha, der jüdische Gesetzeskodex. Auf der Frauenseite sitzen die Frauen, jede für sich, und beten leise, so ist der Brauch, so bestimmt es die Halacha.

Bis 7.00 Uhr haben sich 250 Frauen aller Altersstufen auf der Frauenseite versammelt, zum Teil tragen sie eine Kippa (die Kopfbedeckung der religiösen Männer), den Tallit und Tefilin. Sie beginnen mit dem Gebet, das den neuen Monat empfängt. Jedes Mal, wenn die Frauen laut singen, gellen schrille Pfiffe über den Platz. Ich suche die Störenfriede auf der Männerseite, kann jedoch nichts erkennen.











7.30 Uhr: Zwei Polizisten haben die Missetäter ausfindig gemacht, es sind einige fromme Frauen, die sich empört gegen dieses allmonatliche Spektakel wehren, das sie als Provokation empfinden.


Nur wenige Frauen sind es, fünf oder sechs, Einzelkämpferinnen, streitbare Frauen, die sich nun zu einer heiligen Allianz zusammengeschlossen haben. Sie beschimpfen die geschlossene Gruppe der „Women of the Wall“: „Schämt Euch, ihr seid Ungläubige, geht nach Hause, ihr verstoßt gegen die Halacha, ihr stört uns.“ Es sind mutige Frauen, deren Leben von der Orthodoxie geprägt ist, die gewohnt sind, den Rabbinern und der Halacha zu gehorchen, einem Lebensrhythmus unterworfen, der alles vorbestimmt. Und jetzt plötzlich lehnen sie sich auf, gegen dieses Neue, Ungewohnte. Sie besprechen sich, sie beten gemeinsam (!), drängen fromme junge Mädchen weg, die neugierig die Gruppe der singenden Frauen beobachten. Die jungen Seelen könnten schlecht beeinflusst werden von diesen frechen Frauen, die es wagen, öffentlich zu singen und zu beten!










Die Frauenseite der Klagemauer wird hier zum Mikrokosmos des Judentums, dem Disput zwischen der orthodoxen Auslegung der jüdischen Gesetze, die in Israel alleine bestimmend ist, und den verschiedenen liberalen Strömungen des Judentums, die sich vor allem in den USA entwickelt haben und die eine moderne Gesetzesauslegung befürworten. In Israel haben diese liberalen Strömungen keinen rechtsgültigen Status.

Verbotene Handlung auf der Frauenseite
der Klagemauer: lautes Beten, Singen und
Toralesen.
Neben den verschiedenen Strömungen und den Diskussionen über das „wahre“ Judentum steht die Mehrheit der säkulären Israelis und versteht nicht, worum es eigentlich geht, was der ganze Lärm soll. Unkenntnis der religiösen Gesetze, Gleichgültigkeit und tagtäglicher Stress prägt diesen Teil der Gesellschaft: die ewig steigenden Wohnungspreise, die Verkehrsstaus, der unerträglich heiße Sommer, die zwei Monate dauernden Sommerferien, für die man jeden Tag neu eine Ganztagesbetreuung für die Kinder sucht, um weiter arbeiten zu können. Wen kümmert da, was der neue Religionsminister, David Azulai, von der orthodoxen Schas-Partei, letzte Woche in einem Interview sagt: „Wenn Frauen mit Tallit, Tefillin und einer Thorarolle zur Klagemauer kommen, ist das kein Gebet, es ist eine Provokation!“ In der Gedankenwelt der säkularen Israelis ist für die als Haarspalterei empfundenen Streitereien der Frommen zwischen Orthdox und Liberal kein Platz.


 Am Schabbat fahren keine Busse, es gibt keine Ziviltrauungen (s. dazu meinen letzten Blog), alles unter dem Diktat der Orthodoxie, und das geht uns alle an. So betrachte ich die Women of the Wall als wichtigen Teil einer Debatte, die in der israelischen Gesellschaft stattfinden sollte.

Monday, June 15, 2015

Ein Recht auf Liebe?

Gedanken zu Heirat, Scheidung und moderner ziviler Gesetzgebung in Israel

Tel Aviv schmückt sich mit den Regenbogenfahnen der LGBT Gemeinde (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) und feiert im Juni eine Woche lang das GayFestival.
Auf der Tel Aviver Gay-Webseite werden die Fortschritte in der Gleichstellung der sexuellen Minderheiten in Israel gelobt: die progressive Gesetzgebung und Rechtsprechung, die Änderungen der letzten Jahre von einem Leben am Rand der israelischen Gesellschaft hin zu erhöhter Sichtbarkeit und wachsender Akzeptanz.
http://www.gaytlvguide.com/start-here/gay-rights-in-israel

Die Regenbogenflaggen wehen in Tel Aviv
 Juni 2015 
In der Schweiz wird homosexuellen Paaren durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom Mai 2015 das Recht auf Adoption verweigert. In Deutschland wird über eine Gesetzesänderung für gleichgeschlechtliche Ehen gestritten. Die Diskussion dreht sich um das Recht auf Liebe und die Wahl, den geliebten Partner auch heiraten zu dürfen.

Israel gibt sich fortschrittlich. Gleichgeschlechtliche Paare bringen ihre durch Leihmutterschaft gezeugten und geborenen Kinder aus dem Ausland mit, und sie werden als Kinder beider Ehepartner registriert.

Hier folgt jedoch ein großes Aber. Für das Gros der israelischen Bevölkerung gibt es im zivilen Bereich keine progressive Gesetzgebung und Rechtssprechung. Es gibt keine Ziviltrauung. Die Verantwortung liegt allein bei den religiösen Instanzen, bei den jeweiligen jüdischen, muslimischen oder christlichen Institutionen. So wurde es im osmanischen Reich bis 1918 in der ganzen Region gehandhabt, und die Engländer, die 30 Jahre lang die Region verwalteten, haben daran nichts verändert. Israel hat diese Gesetze 1948 mit der Staatsgründung dann ebenfalls übernommen, und obwohl es verschiedene Vorstöße in der Knesset gab – geändert wurden sie nicht.
So gilt nun für Juden im Staat das halachische Gesetz, für Muslime gilt die Scharia. Die Halacha bestimmt beispielsweise, dass ein männlicher Jude aus der Priesterkaste (eine Einrichtung aus der Tempelzeit; heute existiert diese Kaste nur noch dem Namen nach – Cohen, Kagan etc.) keine geschiedene Frau heiraten darf. Jüdischen Einwanderern, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, die ihre jüdische Abstammung nicht nachweisen können, wird die Ehe mit einem Juden verweigert. Bei der Heirat wird die jüdische Frau dem Mann „angeheiligt“, folglich ist auch der Mann derjenige, der die Scheidung initiieren darf. Eine jüdische Frau, die sich scheiden lassen möchte, bleibt auf ewig gebunden, wenn der Ehemann sich der Scheidung verweigert. Der kürzlich erschienene Film „Gett − der Prozess der Viviane Amsalem“ zeigt diese Problematik mit aller Deutlichkeit, und zwar sowohl die Ohnmacht der Frauen als auch die (vermeintliche?) Machtlosigkeit der Rabbiner gegenüber der Willkür eines eifersüchtigen Ehemannes. Hier ein Link zum Trailer des Films http://www.imdb.com/title/tt3062880/   Ein muslimischer Mann kann sich von seiner Frau scheiden lassen, sie hat kein Mitspracherecht. Das sind nur einige wenige Beispiele dieser „altehrwürdigen“ Gesetze. Es gibt auch keine religiösen „Mischehen“ − welche Institution sollte eine Muslima mit einem jüdischen Mann oder einen christlichen Mann mit einer Jüdin verheiraten?

Yaara und Omer gehören zu den wenigen, die hier ohne Rabbiner
geheiratet haben, unterstützt von der Bewegung "freies Israel"
http://bfree.org.il/english
Wer hier nicht heiraten darf, kann eine Ehe im Ausland schließen, was dann wiederum vom demokratisch-zivilen Staat Israel anerkannt wird: Der Staat registriert das Paar als Ehepartner. Im naheliegenden Zypern hat sich eine richtiggehende Heiratsindustrie entwickelt. Es geschieht aber eher selten, dass säkulare Israelis, die hier heiraten dürfen, eine Eheschließung im Ausland wählen, um so dem Rabbinat den Rücken zu kehren. Paradoxerweise müssen sich Paare, die im Ausland geheiratet haben, bei einer Trennung doch wieder an die religiösen Instanzen wenden, und die Scheidung wird dann von den religiösen Institutionen ausgesprochen.

Wir geben uns modern und brüsten uns damit, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Aber der Staat verweigert vielen Liebenden ein grundsätzliches demokratisches Menschenrecht, verankert in der allgemeinen Menschenrechtserklärung der UNO: das Recht, einen geliebten Menschen zu heiraten. Die breite Masse der Israelis steht dieser Ungerechtigkeit scheinbar gleichgültig gegenüber, die meisten beugen sich dem Diktat der Orthodoxie, die in religiösen Dingen das alleinige Sagen hat.

Die LGBT-Gemeinde kämpft seit Jahren mit Erfolg für ihre Rechte. Warum kämpfen wir Säkularen nicht für die unsrigen?

Unsere ältere Tochter und ihr Freund haben sich entschieden, im Ausland zu heiraten und so ein Zeichen zu setzen. Wir unterstützen diese Entscheidung in vollem Umfang.