(Oder: Gedanken zum 50. Jahrestag des 6-Tagekrieges.)
Wo
bleibt Ihr Demokratieverständnis? Sie waren lange ein überzeugter Demokrat, das war beruhigend. Ihre
Koalition, die nicht meine ist, peitscht Gesetze durch die Knesset, die
Bürgerrechte und Meinungsfreiheit immer mehr einschränken. Sie richten sich
gegen die arabische Minderheit im Staat, die Medien, NGOs, die sich für
Menschenrechte einsetzen, Andersdenkende. Sie unterstützen Gesetze, die die
Rechte der Siedler im besetzten Westjordanland ausweiten und dadurch die
Palästinenser weiter entrechten.
Hintergrundinformation: Ulrich Schmid, NZZ vom 5.6.2017.
Als wir vor
vielen Jahren in Jerusalem geheiratet haben, habe ich diesen Spruch für unsere
Trauungsanzeige gewählt. Heute, nach 50 Jahren israelischer Besatzung von
Jerusalem und der Westbank (oder Befreiung, je nach politischem Blickwinkel), ist
der Zeitpunkt für eine Bilanz reif. Ich stelle dazu einige Fragen, an meine
israelischen Mitbürger, an den Ministerpräsidenten des Staates Israel, und nicht
zuletzt auch an mich selbst.
Fragen
an meine israelischen Mitbürger, auf der Alltagsebene der Besatzung
Wissen
Sie, dass Jerusalem nach 50 Jahren eine de facto geteilte Stadt ist? Durch Mauern, soziale Unterschiede
sowie unterschiedliche infrastrukturelle Investitionen, geteilt in West und
Ost, in arabische und jüdische Viertel? Ah, Sie waren nie in Ostjerusalem?
Natürlich nicht, es ist schliesslich gefährlich dort. Die vereinigte Stadt ist nämlich
eine Illusion.
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Wissen
Sie, was es bedeutet, 50 Jahre unter Besatzung und Militäradministration zu
leben? Auf
Gutdünken ausgeliefert, in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein? Versuchen
Sie mal, das alles von der anderen Seite zu betrachten, nicht von der Seite
unserer Kinder, die wir als Soldaten an die Checkpoints schicken, um unmögliche
Arbeit zu verrichten. Betrachten Sie es von der Seite des Palästinensers, der
in Israel arbeitet, weil er etwas mehr verdient in unserem teuren Land, und ab
4.00 früh am Checkpoint ansteht. Stellen Sie sich die Studentin vor, die
stundenlang braucht, um an ihre Uni zu gelangen, den Geschäftsmann, der sein
Treffen nicht einhalten kann, weil er wieder mal nicht durchgelassen wird,
zwischen Nablus und Ramallah.
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Wann
waren Sie das letzte Mal an einem Checkpoint, an der Mauer, an einem der Zäune,
deren Tore auf Gutdünken geöffnet und geschlossen werden? Der Blick ist unangenehm, das kann
ich Ihnen versichern. Einfacher ist es, die nächste Auslandreise zu planen, und
ausserdem mit der Illusion zu leben, dass die Besatzung inexistent ist.
Wann
haben Sie sich das letzte Mal überlegt, dass WIR die Wahl haben, es anders zu
machen?
Fragen
an den Ministerpräsidenten des Staates Israel, Benjamin Nethanyahu, auf
Staatsebene:
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Parlamentssaal, Frühlingspause |
Wie ist
es möglich, dass Sie sich bisher vor allen Korruptionsvorwürfen schützen
können? Überall
riecht es nach Korruption: beim Kaufe von deutschen U-Booten, bei den Verträgen
zu den Gasvorkommen im Mittelmeer, beim Erhalt von Geschenken von wohlhabenden
Freunden. Wer schützt Sie? Der Staatsanwalt, Ihre einflussreichen Freunde, die
Yes-Männer, mit denen Sie sich umgeben. Und Ihre eigene Gratis-Tageszeitung verkündet
jeden Tag von Neuem: Halleluja Netanyahu.
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Sitzung einer Schweizer Gruppe in der Knesset |
Was
denken Sie sich genau, wenn Sie wieder mal hetzen? Hetzen gegen die Araber im Staat Israel, gegen
die Linken, gegen die Welt und alle ihre Antisemiten, gegen die Medien, die
immer weniger relevant sind, da Sie ja seit ewigen Zeiten selbst Kommunikationsminister
sind. Hetze kommt immer gut an im eigenen Lager, wenn man sonst nichts zu
bieten hat.
Haben
Sie irgendwelche Visionen fürs die Zukunft?
Einen
jüdischen Staat vom Meer bis zum Jordangraben, mit einer jüdischen Minderheit
und einer entrechteten palästinensischen Mehrheit? Annektiert oder nicht
annektiert? Oder vielleicht ist die Vision einfach «Netanyahu Forever».
Und zu
allerletzt eine Frage an mich selbst:
Warum
bleibe ich hier? Die
roten Linien, die ich mir gesetzt habe, sind längstens überschritten.
Ich lebe beinahe
40 Jahre in einem Staat, der sich auf Nichtwiedererkennen verändert hat, und
manchmal bin ich rat- und heimatlos. Und ich bleibe hier, trotzdem, weil meine Familie
hier ist, und weil ich die Hoffnung nicht aufgebe. Etwas regt sich hier. Letzte
Woche nahm ich in Tel Aviv an der Demo teil gegen die Besatzung, die ein Land
tötet, das ich liebe.