Vor geraumer Zeit wurde ich auf eine
jüdisch-feministische Gruppe aufmerksam, die sich „Women of the Wall“ nennt; eine
meiner Reisegruppen hat sich auch mit Batya getroffen, die in dieser Bewegung
eine führende Rolle spielt.
Die Gruppe besteht seit 26 Jahren und
kämpft für das Recht von Frauen, an der Klagemauer gemeinsam laut beten und
singen zu dürfen, Tallit (Gebetschal) und Tefilin (Gebetsriemen) zu tragen und
aus der Thora vorzulesen – lauter Dinge, die das orthodoxe Judentum den Frauen
nicht gestattet. Die „Women of the Wall“ sind zum großen Teil Einwanderinnen
aus den USA und gehören zur dort größten Strömung des Judentums, dem
Reformjudentum. Seit Jahren streiten sie für religiöse Gleichberechtigung und
haben in einigen Punkten vor dem Hohen Gericht einen Durchbruch erzielt. Link zur Webseite von Women of the Wall
Am 1. Tag des Monats Tammuz, der wie jeder
jüdische (und auch muslimische) Monat bei Neumond beginnt, habe ich am frühen Morgen
die Klagemauer aufgesucht.
6.30 Uhr: Bereits aus großer Entfernung hört man die Männer
singen, sie beten und tanzen, laut, gemeinsam, so ist es Brauch, so bestimmt es
die Halacha, der jüdische Gesetzeskodex. Auf der Frauenseite sitzen die Frauen,
jede für sich, und beten leise, so ist der Brauch, so bestimmt es die Halacha.
Bis 7.00 Uhr haben sich 250 Frauen aller Altersstufen auf der
Frauenseite versammelt, zum Teil tragen sie eine Kippa (die Kopfbedeckung der
religiösen Männer), den Tallit und Tefilin. Sie beginnen mit dem Gebet, das den
neuen Monat empfängt. Jedes Mal, wenn die Frauen laut singen, gellen schrille
Pfiffe über den Platz. Ich suche die Störenfriede auf der Männerseite, kann
jedoch nichts erkennen.
7.30 Uhr: Zwei Polizisten haben die Missetäter ausfindig
gemacht, es sind einige fromme Frauen, die sich empört gegen dieses allmonatliche
Spektakel wehren, das sie als Provokation empfinden.
Link zu Film: lautes Gebet und schrilles Pfeiffen.
Nur wenige Frauen sind es, fünf oder sechs,
Einzelkämpferinnen, streitbare Frauen, die sich nun zu einer heiligen Allianz zusammengeschlossen
haben. Sie beschimpfen die geschlossene Gruppe der „Women of the Wall“: „Schämt
Euch, ihr seid Ungläubige, geht nach Hause, ihr verstoßt gegen die Halacha, ihr
stört uns.“ Es sind mutige Frauen, deren Leben von der Orthodoxie geprägt ist,
die gewohnt sind, den Rabbinern und der Halacha zu gehorchen, einem Lebensrhythmus
unterworfen, der alles vorbestimmt. Und jetzt plötzlich lehnen sie sich auf,
gegen dieses Neue, Ungewohnte. Sie besprechen sich, sie beten gemeinsam (!), drängen fromme junge Mädchen weg, die neugierig die Gruppe der singenden Frauen beobachten.
Die jungen Seelen könnten schlecht beeinflusst werden von diesen frechen
Frauen, die es wagen, öffentlich zu singen und zu beten!
Die Frauenseite der Klagemauer wird hier
zum Mikrokosmos des Judentums, dem Disput zwischen der orthodoxen Auslegung der
jüdischen Gesetze, die in Israel alleine bestimmend ist, und den verschiedenen liberalen
Strömungen des Judentums, die sich vor allem in den USA entwickelt haben und die
eine moderne Gesetzesauslegung befürworten. In Israel haben diese liberalen Strömungen
keinen rechtsgültigen Status.
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Verbotene Handlung auf der Frauenseite der Klagemauer: lautes Beten, Singen und Toralesen. |
Neben den verschiedenen Strömungen
und den Diskussionen über das „wahre“ Judentum steht die Mehrheit der säkulären
Israelis und versteht nicht, worum es eigentlich geht, was der ganze Lärm soll.
Unkenntnis der religiösen Gesetze, Gleichgültigkeit und tagtäglicher Stress prägt
diesen Teil der Gesellschaft: die ewig steigenden Wohnungspreise, die
Verkehrsstaus, der unerträglich heiße Sommer, die zwei Monate dauernden Sommerferien,
für die man jeden Tag neu eine Ganztagesbetreuung für die Kinder sucht, um
weiter arbeiten zu können. Wen kümmert da, was der neue Religionsminister,
David Azulai, von der orthodoxen Schas-Partei, letzte Woche in einem Interview
sagt: „Wenn Frauen mit Tallit, Tefillin und einer Thorarolle zur Klagemauer
kommen, ist das kein Gebet, es ist eine Provokation!“ In der Gedankenwelt der
säkularen Israelis ist für die als Haarspalterei empfundenen Streitereien der
Frommen zwischen Orthdox und Liberal kein Platz.
Am Schabbat fahren keine Busse, es
gibt keine Ziviltrauungen (s. dazu meinen letzten Blog), alles unter dem Diktat
der Orthodoxie, und das geht uns alle an. So betrachte ich die Women of the
Wall als wichtigen Teil einer Debatte, die in der israelischen Gesellschaft
stattfinden sollte.