Sunday, December 1, 2013

Sind alle Juden in Israel reich?

Ich sitze in der Jerusalemer Ben Yehuda Strasse, der Einkaufsmeile der Weststadt und betrachte die vorüberziehenden Menschen. Die meisten sind billig, ja schäbig angezogen, schleppen Plastiktüten und billige Handtaschen herum. Eine Frau trägt ein schlechtsitzendes hellblaues Kleid, das bessere Zeiten gesehen hat und auch damals, als sie es gekauft hat, wahrscheinlich ein heruntergeschriebener Ladenhocker war. Ich sehe Menschen mit löchrigen Schuhen, Menschen, die stark hinken, übergewichtige Menschen, alles Anzeichen von Armut. Jerusalem ist eine arme Stadt, das Ostjerusalem der Araber und das Westjerusalem der Juden.

Wenige Wochen zuvor leitete ich eine grosse Reisegruppe. Mit einem Kreuzschiff fuhren meine Reiseteilnehmer 8 Tage durch das östliche Mittelmeer, in Israel wurde ihnen ein Tagesausflug angeboten. Unterwegs habe ich ihnen Verschiedenes erzählt, unter anderem auch die statistischen Daten von Israel erwähnt – 80% Juden, 20% Araber (Moslems und Christen). Beim nächsten Halt hat sich ein Reiseteilnehmer mit einer, wie er es ausdrückte, "privaten" Frage an mich gewandt. "Sind denn in Israel auch alle Juden so reich, wie sie es anderswo sind?"

Die Gruppe hatte als einzigen Ausflug in Israel einen Besuch ans Tote Meer gewählt. Wir besuchten keine Städte, und so konnte ich dem Reiseteilnehmer die Armut eines Teils der Bevölkerung dieses Landes nicht lebendig vor Augen führen, sondern nur allgemein darüber reden, dass Israel ein Land wie viele andere auch ist, obwohl die meisten Menschen Juden sind, und dass die soziale Schere hier sogar grösser ist als in den meisten westlichen Ländern.

So habe ich mich jetzt über die Statistiken hergemacht, um eine präzisere Antwort bereitzuhalten und, vielleicht, wieder einmal, ein hartnäckiges Vorurteil auch nur ein bisschen abzubauen, eben dasjenige, dass alle Juden reich seien.

Vor wenigen Jahren wurde Israel in die Organisation für wirtschaftliche Kooperation und Entwicklung (OECD) aufgenommen. Dieser Beitritt war und ist der Stolz von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, der mit viel Energie und Arbeit diesen Beitritt bewirkt hat. Die OECD hat 34 Mitgliedstaaten, die meisten Europäischen Staaten sind Mitglieder, die USA, Kanada, Australien, und einige aufsteigende Staaten wie Chile, die Türkei und Mexiko, kurz, die reicheren Staaten. Die OECD publiziert u.a. wirtschaftliche Statistiken über die Mitgliedstaaten.

Ein wichtiger Indikator von Reichtum und Armut ist der Gini-Koeffizient, der in der Wohlfahrtsökonomie verwendet wird, um das Mass der Gleichheit oder Ungleichheit der Verteilung von Vermögen oder Einkommen zu beschreiben. Israel steht hier an fünftletzter Stelle, ist also eines der Länder mit schlechter Verteilung, was heisst, dass es reiche, aber eben auch viel arme Menschen gibt.

Ein weiterer Indikator, von der OECD entwickelt, ist die Häufigkeit der Armut, wo Israel mit 20.6% den zweitletzten Platz belegt, gleich vor Mexiko.

Dem kann entgegengehalten werden, dass die Araber eine arme Bevölkerung sind. Das stimmt, aber nicht alle Araber in Israel sind arm, genauso, wie nicht alle Juden reich sind. Unter den orthodoxen Juden gibt es sehr viel und himmelschreiende Armut. Araber und orthodoxe Juden bilden die zwei ärmsten Bevölkerungsgruppen in Israel. Beide Bevölkerungsgruppen weisen eine hohe Kinderzahl (bei den Arabern in den letzten Jahren Tendenz sinkend) und eine unzulängliche Schulbildung auf. Wie überall gehören auch hier alleinerziehende Eltern, meistens Mütter, zu den ärmsten Bevölkerungsschichten. Zudem hat Israel in den letzten 25 Jahren mehr als 1 Million Neueinwanderer aufgenommen, hauptsächlich aus der ehemaligen Sowjetunion. Diese Menschen sind zum grossen Teil gut ausgebildet, aber besonders ältere Menschen beherrschen die Landessprache nicht und schlagen sich mit schlechtbezahlen Jobs mehr schlecht als recht durch. Es gibt in Israel auch eine breite Mittelschicht, wie überall in den industrialisierten Ländern, Menschen, die morgens früh aufstehen und hart arbeiten, um sich und ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen – ein Dach über dem Kopf, ein Auto, eine gute Bildung für die Kinder, ab und zu mal eine Reise ins Ausland.  

Und hinter jeder Statistik stehen Menschen, so wie eben die Menschen in der Westjerusalemer Einkaufsmeile, mit ihren Plastiktüten und den löchrigen Schuhen. Nein, Herr Reiseteilnehmer, nicht alle Juden in Israel sind reich. Ich lade Sie ein, sich in die Ben Yehuda Strasse zu setzen und die Menschen als Menschen zu betrachten, ohne Vorurteile und ohne vorgefasste Meinungen.



Quelle: OECD, Gesellschaft auf einen Blick 2011, und Berechnungen durch die Administration von Forschung und Planung.

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