Ich sitze in der Jerusalemer Ben Yehuda Strasse,
der Einkaufsmeile der Weststadt und betrachte die vorüberziehenden Menschen. Die meisten sind billig, ja schäbig angezogen,
schleppen Plastiktüten und billige Handtaschen herum. Eine Frau trägt ein
schlechtsitzendes hellblaues Kleid, das bessere Zeiten gesehen hat und auch
damals, als sie es gekauft hat, wahrscheinlich ein heruntergeschriebener
Ladenhocker war. Ich sehe Menschen mit löchrigen Schuhen, Menschen, die stark
hinken, übergewichtige Menschen, alles Anzeichen von Armut. Jerusalem ist eine
arme Stadt, das Ostjerusalem der Araber und das Westjerusalem der Juden.
Wenige Wochen zuvor leitete ich eine
grosse Reisegruppe. Mit einem Kreuzschiff fuhren meine Reiseteilnehmer 8 Tage
durch das östliche Mittelmeer, in Israel wurde ihnen ein Tagesausflug
angeboten. Unterwegs habe ich ihnen Verschiedenes erzählt, unter anderem auch
die statistischen Daten von Israel erwähnt – 80% Juden, 20% Araber (Moslems und
Christen). Beim nächsten Halt hat sich ein Reiseteilnehmer mit einer, wie er es
ausdrückte, "privaten" Frage an mich gewandt. "Sind denn in
Israel auch alle Juden so reich, wie sie es anderswo sind?"
Die Gruppe hatte als einzigen Ausflug in
Israel einen Besuch ans Tote Meer gewählt. Wir besuchten keine Städte, und so
konnte ich dem Reiseteilnehmer die Armut eines Teils der Bevölkerung dieses
Landes nicht lebendig vor Augen führen, sondern nur allgemein darüber reden,
dass Israel ein Land wie viele andere auch ist, obwohl die meisten Menschen
Juden sind, und dass die soziale Schere hier sogar grösser ist als in den
meisten westlichen Ländern.
So habe ich mich jetzt über die
Statistiken hergemacht, um eine präzisere Antwort bereitzuhalten und,
vielleicht, wieder einmal, ein hartnäckiges Vorurteil auch nur ein bisschen
abzubauen, eben dasjenige, dass alle Juden reich seien.
Vor wenigen Jahren wurde Israel in die
Organisation für wirtschaftliche Kooperation und Entwicklung (OECD)
aufgenommen. Dieser Beitritt war und ist der Stolz von Ministerpräsident
Benjamin Netanyahu, der mit viel Energie und Arbeit diesen Beitritt bewirkt
hat. Die OECD hat 34 Mitgliedstaaten, die meisten Europäischen Staaten sind
Mitglieder, die USA, Kanada, Australien, und einige aufsteigende Staaten wie Chile,
die Türkei und Mexiko, kurz, die reicheren Staaten. Die OECD publiziert u.a. wirtschaftliche Statistiken über die Mitgliedstaaten.
Ein wichtiger Indikator von Reichtum und
Armut ist der Gini-Koeffizient, der in der Wohlfahrtsökonomie verwendet
wird, um das Mass der Gleichheit oder Ungleichheit der Verteilung von Vermögen
oder Einkommen zu beschreiben. Israel steht hier an fünftletzter Stelle, ist
also eines der Länder mit schlechter Verteilung, was heisst, dass es reiche,
aber eben auch viel arme Menschen gibt.
Ein weiterer Indikator, von der OECD
entwickelt, ist die Häufigkeit der Armut, wo Israel mit 20.6% den zweitletzten
Platz belegt, gleich vor Mexiko.
Dem kann entgegengehalten werden, dass die
Araber eine arme Bevölkerung sind. Das stimmt, aber nicht alle Araber in Israel
sind arm, genauso, wie nicht alle Juden reich sind. Unter den orthodoxen Juden
gibt es sehr viel und himmelschreiende Armut. Araber und orthodoxe Juden bilden
die zwei ärmsten Bevölkerungsgruppen in Israel. Beide Bevölkerungsgruppen
weisen eine hohe Kinderzahl (bei den Arabern in den letzten Jahren Tendenz
sinkend) und eine unzulängliche Schulbildung auf. Wie überall gehören auch hier
alleinerziehende Eltern, meistens Mütter, zu den ärmsten Bevölkerungsschichten.
Zudem hat Israel in den letzten 25 Jahren mehr als 1 Million Neueinwanderer
aufgenommen, hauptsächlich aus der ehemaligen Sowjetunion. Diese Menschen sind
zum grossen Teil gut ausgebildet, aber besonders ältere Menschen beherrschen
die Landessprache nicht und schlagen sich mit schlechtbezahlen Jobs mehr
schlecht als recht durch. Es gibt in Israel auch eine breite Mittelschicht, wie
überall in den industrialisierten Ländern, Menschen, die morgens früh aufstehen
und hart arbeiten, um sich und ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen –
ein Dach über dem Kopf, ein Auto, eine gute Bildung für die Kinder, ab und zu
mal eine Reise ins Ausland.
Quelle:
OECD, Gesellschaft auf einen Blick 2011, und Berechnungen durch die
Administration von Forschung und Planung.
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